PRIORITÄTSFLÄCHEN FÜR PROZESSCHUTZGEBIETE

Urwälder von morgen: Wo sollen sie entstehen?

Bannwälder und Kernzonen von Großschutzgebieten sind forstlich nicht genutzte Waldgebiete, in denen sich der Wald aus sich selbst heraus entwickeln und der "Urwald von morgen" entstehen soll. Sie sind wichtige Waldgebiete für den Schutz natürlicher Prozesse (Prozessschutzflächen) und ihrer Auswirkungen auf die Waldbiodiversität. Die Ausweisung neuer Gebiete ist daher Teil nationaler und internationaler Naturschutzstrategien.

Politische Voraussetzungen

Aufbauend auf der nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt (BMUB 2007) sieht die "Naturschutzstrategie Baden-Württemberg" vor, fünf Prozent der Gesamtwaldfläche aus der forstlichen Nutzung zu nehmen (MLR 2013). Die Gesamtkonzeption Waldnaturschutz von ForstBW (Ziel 8: Prozessschutz) trägt zur Umsetzung dieses Ziels bei, indem zehn Prozent der Staatswaldfläche Baden-Württembergs der natürlichen Waldentwicklung überlassen werden sollen (ForstBW 2015). Mindestens drei Prozent davon sollen auf langfristig durch Rechtsverordnung gesicherte Flächen (d.h. Bannwälder und Großschutzgebiets-Kernzonen) entfallen (MLR 2013). Dies erforderte ein Konzept für eine gezielte sinnvolle Ausweisung dieser neuen Prozessschutzflächen.

Bei der Ausweisung von Bannwäldern bzw. Kernzonen stand bisher hauptsächlich eine repräsentative Verteilung der Prozessschutzflächen auf Naturräume und Waldgesellschaften Baden-Württembergs im Vordergrund. Später kam der besondere Schutz seltener Waldgesellschaften hinzu. Die theoretisch definierten Fachkriterien wurden in der Praxis jedoch häufig von forstpraktischen und ökonomischen Aspekten überlagert, weswegen sich die bestehenden Bannwälder überdurchschnittlich häufig in schlecht zugänglichen Steillagen befinden.

Chancen in der Neuausweisung von Flächen

Neuausweisungen von Bannwäldern sollten auf eine Optimierung ihrer unterschiedlichen Funktionen ausgerichtet sein. Während die wissenschaftliche Funktion eine repräsentative Verteilung der Flächen auf Waldgesellschaften und standörtliche Einheiten erfordert, sind für die ökologische Funktion insbesondere Kriterien der Waldgeschichte (Habitattradition), der ökologischen Ausstattung (z.B. strukturelle Ausstattung, Naturnähe, Bestandesalter) sowie der Flächengröße und räumlichen Verteilung (Vernetzung) von Bedeutung.

Neue Gebiete sollten daher wie bisher zum einen die Repräsentativität der Bannwald-Flächenkulisse verbessern und zum anderen sollten bevorzugt Flächen ausgewiesen werden, die im Hinblick auf die ökologische Funktion besonders hochwertig sind: Möglichst alte, naturnahe und strukturreiche Wälder sollen in die Kulisse aufgenommen werden, da erwartet wird, dass sie schneller "Urwald"-ähnliche Strukturen entwickeln können (Braunisch 2019). Zusätzlich können, wo sinnvoll, auch ökonomische Aspekte berücksichtigt werden.

Algorithmen unterstützen die Entscheidung

Eine gleichzeitige Berücksichtigung und Optimierung aller genannten Kriterien und Indikatoren über die gesamte Waldfläche Baden-Württembergs hinweg ist allein mit gutachterlichen Methoden nicht möglich. Die Herleitung geeigneter Flächen für Neuausweisungen im Staatswald erfolgte daher mit Hilfe von mathematischen Algorithmen zur "systematischen Naturschutzplanung" (Systematic Conservation Planning, SCP) (Margules und Pressey 2000). Diese Algorithmen identifizieren, basierend auf räumlich expliziten Daten zu den Indikatoren der Kriterien "Repräsentanz" und "Habitatqualität", die Waldflächen, auf denen die genannten Kriterien bestmöglich erfüllt werden (Ball et al. 2009). Dabei wird nicht nur auf die Optimierung der Kriterien im einzelnen Gebiet geachtet, sondern auch auf Komplementarität, das heißt auf die Optimierung aller Kriterien über die Gesamtkombination aller potentiellen Flächen hinweg. Der Vorteil von SCP-Algorithmen ist die transparente und objektive Herangehensweise, die eine nachvollziehbare Identifizierung von Gebieten unter Berücksichtigung definierter Kriterien erlaubt.

Eine solche, systematische Flächenselektion wurde für den Staatswald durchgeführt und liefert eine Grundlage, um bei der Planung von Neuausweisungen im Rahmen des Ziels, zehn Prozent des Staatwaldes als Prozessschutzflächen auszuweisen, die vielfältigen Ansprüche an Bannwälder bestmöglich zu erfüllen. Für diese Selektion wurden im ersten Schritt Waldgebiete mit erhöhten Randeinflüssen durch Infrastruktur oder Besiedelungen identifiziert und ausgeschlossen. Für die verbleibenden Staatswaldgebiete wurden im zweiten Schritt Flächenmodellierungen mit der Optimierungs-Software MARXAN (Ball et al. 2009) durchgeführt, um Flächen zu identifizieren, die künftig als prioritäre Flächenkulisse für die Ausweisung neuer Prozessschutzflächen dienen können. Dabei wurden unterschiedliche Szenarien verglichen, bei denen unterschiedliche Ansprüche an die Optimierung der oben genannten Kriterien gestellt und unterschiedliche  politische Flächenziele angenommen wurden.

Feinjustierung auf Grundlage lokaler Gegebenheiten

Die Priorisierungskulisse dient als Entscheidungshilfe und stellt grobe "Suchräume" bereit, innerhalb derer für die genaue Flächenabgrenzung weitere Prüfkriterien herangezogen werden sollen: Zum einen werden potentielle Zielkonflikte mit anderen Schutzobjekten (z.B. die Lebensräume hochgradig gefährdeter Arten für die Pflegemaßnahmen erforderlich sind) geprüft und bewertet. Zum anderen wurde als weitere Entscheidungshilfe die ökonomische Wertigkeit der Flächen berechnet. Weiterhin wird die potentielle Bannwaldfläche im Hinblick auf ihre mögliche Funktion in einem ökologischen Vernetzungskonzept geprüft.

Die konkrete Flächenabgrenzung auf Bestandesebene muss dann vor Ort, in Zusammenarbeit mit den Forstbehörden und unter Berücksichtigung der lokalen Gegebenheiten erfolgen.
Somit können die „Urwälder von morgen“ bestmöglich gefunden werden.

Weiterführende Informationen

FVA (2021). Systematische Herleitung von Prioritätsflächen für die Ausweisung neuer Prozessschutzflächen – Urwälder von morgen: wo sollen sie entstehen? Seebach, L, Braunisch, V. (eds.), Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Baden-Württemberg, Freiburg im Breisgau, 39 S. (PDF)

Literatur

  • Ball, I.R., Possingham, H.P.,Watts, M. (2009). Marxan and relatives: Software for spatial conservation prioritisation. Chapter 14. Spatial conservation prioristisation: Quantitative methods and computational tools. A. MoilanenK.A. Wilson. Oxford, UK, Oxford University Press: 185-195 S.

  • BMUB (2007). Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt. Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMUB) Bundesministerium für Umwelt. Berlin: 180 S.

  • Braunisch, V., Roder, S., Coppes, J., Froidevaux, J.S.P., Arlettaz, R.,Bollmann, K. (2019). "Structural complexity in managed and strictly protected mountain forests: Effects on the habitat suitability for indicator bird species." Forest Ecology and Management 448: 139-149 S.

  • ForstBW (2015). Die Gesamtkonzeption Waldnaturschutz ForstBW Stuttgart, Landesbetrieb Forst BW 58 S.

  • Margules, C.R.,Pressey, R.L. (2000). "Systematic conservation planning." Nature 405 (6783): 243-253 S.

  • MLR (2013). Naturschutzstrategie Baden-Württemberg. Landwirtschaft Ministerium für Ländlichen Raum, Ernährung und Forsten Baden-Württemberg,. Stuttgart: 118 S.

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